Vom Sozialstaat zum Kontrollsystem

Von Juli Zeh

Ärzte sollen Kranke melden, die ihr Leiden selbst verschuldet haben. Die Krankenkassen stünden demnach nicht uns bei, sondern wir schuldeten ihnen, gesund zu bleiben

julizeh_img_8958.jpgDie Diagnose vorab. Sie lautet: Erosion des demokratischen Denkvermögens im fortgeschrittenen Stadium. Symptome: Scheinlogik auf Seiten der politischen Akteure, Indifferenz bis zum politischen Autismus bei den Bürgern. Krankheitstypische Äußerungen von infizierten Personen: “Der Rechtsstaat muss verteidigt werden, aber in Zeiten wie diesen hat Sicherheit Vorrang” (ein eifriger Minister). Oder: “Dann sollen sie halt Festplatten scannen - das betrifft ja nicht Leute wie mich, die nichts zu verbergen haben” (ein unbescholtener Bürger). Verbreitungsgrad des Syndroms: epidemisch.
Die Optimisten unter uns glauben bislang, die Ausbreitung des beschriebenen Krankheitsbilds beschränke sich auf den sogenannten Anti-Terror-Kampf. Sie beobachten den Umbau eines auf Notlagen reagierenden Wohlfahrtsstaates in ein präventiv denkendes und handelndes Kontrollsystem und reden sich ein, es handele sich nicht um eine dauerhafte Entwicklung, nicht um ein grundsätzliches Umdenken in Sachen Bürger-Staat-Verhältnis, sondern um temporäre Härtefallregeln, mit deren Hilfe wir - leider, leider! - den derzeit so virulenten Bedrohungen unserer Gesellschaft begegnen müssen. Aber was, wenn das Virus ein wenig mutiert und plötzlich die Abteilung Terrorismus verlässt? Wenn es sich ein Wirtstier sucht, das es in alle Lebensbereiche trägt? (mehr…)

Die Einheitsprofiteure

 Abbau Ost: Wie westdeutsche Banken sich an der DDR bereicherten
Von Lydia Krüger

deutsche-bank.jpgSiebzehn Jahre sind seit dem Ende der DDR und ihrem Anschluß an die Bundesrepublik inzwischen vergangen. Von einer deutschen Einheit im Sinne der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen kann jedoch keine Rede sein: So ist die Arbeitslosenquote in den sogenannten neuen Ländern mit offiziell 14,1 Prozent immer noch doppelt so hoch wie in den alten, wo sie aktuell bei sieben Prozent liegt. Und obwohl im Osten länger gearbeitet wird, erzielen die Beschäftigten dort nur 77 Prozent des durchschnittlichen Westeinkommens. Wie sehr die hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ausgenutzt wird, um Löhne immer weiter zu drücken, sieht man daran, daß in etwa einem Drittel der ostdeutschen Betriebe Ein-Euro-Jobber in der Mehrheit sind. Kein Wunder, daß gerade junge und qualifizierte Menschen dem Osten den Rücken kehren und so statt den versprochenen »blühenden Landschaften« zum Teil sehr trostlose Gegenden hinterlassen. (mehr…)

“Ich hab’s mir nicht ausgesucht”

Von Jens Wernicke

Ergebnisbericht einer Studie zu den Auswirkungen von Hartz IV auf die Betroffenen

arbeit_macht_frei.jpgVon Ende März bis Ende September 2006 hat die Sozialwissenschaftlerin Anne Ames (1) im Auftrag des Zentrums Gesellschaftliche Verantwortung (2) (ZGV) der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau eine Fragebogenerhebung bei Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II (ALG II) durchgeführt. Ziel der Erhebung war es, die Umsetzung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) und deren Auswirkungen aus der Sicht und dem Erleben der Betroffenen zu erkunden.
Der Ergebnisbericht (3) liegt nun unter dem Titel “Ich hab es mir nicht ausgesucht” vor. Bereits an zweiter Stelle der am schwersten erlebten Entbehrungen der Betroffenen, so eins der zentralen Ergebnisse, “steht (…) (dabei) die Ernährung. Offenbar sparen sich viele (…) die Ausgaben für Dinge, die im Regelsatz nicht vorgesehen sind - etwa eine Monatskarte für den Stadtverkehr, das Abonnement einer Tageszeitung, Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke - buchstäblich vom Munde ab”. (mehr…)

Tödliches Copyright

Von Andreas Henrichs

Von der rigorosen Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte und einem verschärften Patentschutz bei Arzneimitteln profitieren vor allem Pharmaunternehmen aus den reichen Industrienationen. Auf der Strecke bleiben dabei arme Patienten in den Entwicklungs- und Schwellenländern

aids.jpgNach Angaben (1) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die Immunschwächekrankheit HIV/AIDS weltweit die vierthäufigste Todesursache. Von den über 40 Millionen infizierten Menschen werden 75% nicht oder nicht ausreichend medikamentös behandelt. Dies betrifft alleine im südlichen Afrika 1,8 Milionen HIV-infizierte Kinder , deren Angehörige sich die teuren Orginalmedikamente der renommierten Pharmakonzerne nicht leisten können, da ihr Preis durch die enthaltenen Patent- und Lizenzgebühren ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten bei weitem übersteigt. Die Aids-Mittel der ersten Generation sind zwar noch als sogenannte Generika, dh. preiswerte, chemisch und biologisch exakte Nachbauten der Orginalpräparate erhältlich, aber namenhafte Arzneimittelhersteller gehen juristisch gegen die Produzenten der lebensrettenden generischen Medikamente vor und weigern sich die neueren antiretroviralen Pharmazeutika der zweiten Generation auch armen Patienten zugänglich zu machen.
Seit Unterzeichnung des WTO-Abkommens über handelsbezogene geistige Eigentumsrechte (TRIPS) im Jahr 1994 überziehen Interessenverbände der Copyright-Industrien die Öffentlichkeit mit immer neuen Kampagnen zur “Verteidigung der Autorenrechte” und dem “Schutz des geistigen Eigentums”. Ziel dieser PR-Offensive ist die Schaffung eine gesellschaftlichen Klimas, in dem das Kopieren einer Musik-CD genauso selbstverständlich als Straftat – und damit als unmoralisch - bewertet wird, wie z. B. die legale Produktion eines patentrechtlich geschützten Medikaments unter einer staatlich angeordneten Zwangslizenz. Das unermüdliche Werben um die ständige Verschärfung der Urheber- und Patentrechte fällt bei vielen Regierungen der reichen Industrienationen auf fruchtbaren Boden. Die negativen Folgen dieser Politik für die Grundversorgung vieler Entwicklungsländer mit bezahlbaren, nicht gentechnisch veränderten Grundnahrungsmitteln oder preiswerten Medikamenten finden in der öffentlichen Diskussion jedoch kaum Beachtung. Die Abschlusserklärung (2) des kürzlich zuende gegangenen G-8 Gipfeltreffens in Heiligendamm erscheint in dieser Hinsicht paradigmatisch. Zu dem Thema Patentrecht heißt es dort:

“Ein voll funktionierendes System des geistigen Eigentums ist ein wesentlicher Faktor für die nachhaltige Entwicklung der Weltwirtschaft durch die Förderung von Innovation. Wir wissen wie wichtig es ist, das internationale Patentsystem zu straffen und zu harmonisieren, um den Erwerb und Schutz von Patentrechten weltweit zu verbessern.” (mehr…)

Eine Nummer ist auch nur ein Mensch

Von Heribert Prantl

002.jpgJeder Deutsche wird demnächst eine elfstellige Nummer erhalten - so sieht es das neue Lohnsteuergesetz vor, das das Kabinett beschließen will. Datenschützer sehen darin eine Zäsur in der deutschen Datenschutzgeschichte. In diesen Wochen wird jeder Mensch in Deutschland einen Brief erhalten. In diesem Brief steht sein neuer Name. Diesen Namen hat er nicht geerbt; und weder er noch seine Eltern haben ihn sich ausgedacht. Der Staat hat ihm diesen Namen zugeteilt.
001.jpgDer neue Name besteht aus elf Ziffern; und diese Ziffern werden so wichtig sein, dass der alte Name immer weniger interessiert. Der neue Name wird die Basis der Existenz, der alte zur Zierde. Ohne den neuen Namen wird man kein Konto eröffnen, keinen Handyvertrag schließen, sich nicht für die Volkshochschule anmelden und sich nicht ins Internetforum einloggen können. (mehr…)

Der Demokrat der Stunde: Eugen Drewermann

 Eugen Drewermann (* 20. Juni 1940 in Bergkamen bei Dortmund) ist ein deutscher Theologe, Psychoanalytiker, Schriftsteller und ein bekannter Vertreter der sogenannten tiefenpsychologischen Exegese.

drewermann.jpgIn der Wochenzeitung Freitag bezieht er immer wieder Stellung zu existentiellen Fragen. Drewermann ist gelegentlich Gast in Fernseh-Talkshows und wird zu Vorträgen überall im deutschsprachigen Raum eingeladen. Seine Wirkung auf viele Menschen geht, wie selbst Kritiker einräumen, nicht zuletzt von einer charismatischen Redebegabung aus, die weniger in oft hektischen Talkshows als vielmehr bei Vorträgen spürbar wird. Mit eindringlich-sanfter Stimme, die von einigen als monoton bezeichnet wird, vermag er über Stunden ohne Manuskript nahezu fehlerlos wie in Schriftsprache vor großem, ihm gebannt lauschenden Publikum zu sprechen. Dabei meidet er Alltagsjargon ebenso wie abgegriffene Redewendungen, so dass seine Sprache durchweg auf hoher Stilebene angesiedelt ist.
Die Vorträge sind zudem klar gegliedert und enthalten eine Fülle von Beispielen aus der Literatur- und Philosophiegeschichte, Naturwissenschaft und Politik. In seiner Tätigkeit als Seelsorger, etwa mit Depressiven, meidet Drewermann “theologische Trostformeln”, die zum Grundbestand der christlichen Dogmatik gehörten, für den Kranken allerdings “religiöse Sprüche” seien. Auch würden sie der Freiheit des Menschen in seiner jeweiligen Notlage nicht gerecht. Statt von der “Vergebung der Sünden”, dem Kreuzestod wie der Auferstehung Jesu, der Erlösung durch die Taufe zu sprechen oder die Beichte bei Schuldgefühlen anzuempfehlen, setzt er auf die Begleitung durch einen Psychoanalytiker. An ihm könne sich der Leidende aufrichten und so über einen großen Zeitraum Vertrauen zu sich selber aufbauen. Diese lange Wegstrecke sei wesentlich christlich, ja an der Bergpredigt orientiert. (mehr …)

Tarnen und Täuschen

Bundeswehr vernichtete wichtige Daten. Behinderung der Aufklärung in Verschleppungsfällen Kurnaz und Khafagy
Ulla Jelpke


bananenrepublik.jpgHat die Bundeswehr vorsätzlich Geheimunterlagen vernichtet, die Hinweise auf eine Mittäterschaft deutscher Soldaten bei der Verschleppung und Mißhandlung von Terrorverdächtigen durch die CIA geben? Laut einem Bericht des ARD-Magazins »Report« vom Montag abend hat das Verteidigungsministerium gegenüber dem Verteidigungsausschuß des Bundestages eingestanden, daß die Geheimdienstinformationen über Auslandseinsätze der Bundeswehr aus den Jahren 1999 bis 2003 nicht mehr vorliegen. Es geht um die beim Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr (ZNBw) gesammelten Berichte deutscher und ausländischer Geheimdienste und Militärattachés zur Lagebeurteilung in Einsatzländern wie Kosovo und Afghanistan. Der Verteidigungsausschuß hatte sämtliche der Bundeswehr vorliegende Meldungen über den Einsatz im afghanischen Kandahar angefordert. So sollten die Vorwürfe des vom US-Geheimdienst verschleppten Bremers Murat Kurnaz aufgeklärt werden, er sei im Januar 2002 von Soldaten des Kommandos Spezialkräfte »KSK« der Bundeswehr mißhandelt worden. (mehr…)

Verhökert ans Imperium der Barbarei

Von Jürgen Rose, München

photo-hande.jpg«Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt», so lautet die schlechthin zentrale Verfassungsnorm unserer Republik. Die Würde des Menschen, wohlgemerkt, heisst es, nicht: die Würde des Deutschen. Dies musste Frank-Walter Steinmeier, der als Chef des Bundeskanzleramtes jene exklusive sogenannte «Präsidentenrunde» leitete, wohl entfallen sein, als dieser Geheimzirkel am 29. Oktober 2002 eiskalt und menschenverachtend beschloss, Murat Kurnaz in der Folterhölle von Guantánamo verrotten zu lassen. Denn dieser war zwar im deutschen Bremen-Hemelingen, einem traditionellen Arbeiterviertel der Hansestadt, geboren und aufgewachsen, besass aber dennoch lediglich einen türkischen Pass. Sollte sich doch die Türkei um den «Bremer Taliban» kümmern.
Vielleicht aber war es genau dieses Schurkenstück, mit dem Steinmeier sich für den Posten des deutschen Aussenministers empfahl, hatte es doch Parteigenosse Otto Schily, der sich im vorgeblichen «Kampf gegen den Terror» mit durchschlagendem Erfolg als Grundrechtsterminator gerierte, immerhin zum Innenminister gebracht. Bemerkenswert auch, dass August Hanning, als Chef des Bundesnachrichtendienstes in die Affäre Kurnaz verstrickt, mittlerweile zum Innenstaatssekretär aufstieg, während der vormalige Geheimdienst-Koordinator Ernst Uhrlau prompt zu Hannings Nachfolger befördert wurde. Organisierte Verfassungsfeindlichkeit als Beförderungsvoraussetzung? Der Rechtsexperte Prof. Peter-Alexis Albrecht moniert hierzu in kaum zu übertreffender Deutlichkeit: «Wir haben einen Zustand erreicht, dass die Exekutive eine Allmacht in diesem Staat darstellt, die keinerlei verfassungsrechtliches Gewissen mehr hat. In ihrem scheinbaren Sicherheitsstreben vernichten sie sämtliche Grundrechte, die in dieser Republik bisher heilig waren.» Quod erat demonstrandum, wie die Leidensgeschichte des Murat Kurnaz eindrucksvoll bezeugt. (mehr…)

Der artgerechte Staat

Das Recht der inneren Sicherheit in Deutschland ist gekennzeichnet vom Verlust der Maßstäbe und von der Veralltäglichung der Maßlosigkeit.
Von Heribert Prantl

buchenwald2.jpgWas bei den Legehennen als nicht artgerecht gilt, gilt nun offenbar bei den Menschen als gerecht. Für Legehennen ist die Käfighaltung mit Ablauf 2008 verboten; für Menschen wurde sie soeben eingeführt. In Heiligendamm sind die festgenommenen Demonstranten in Gitterkäfige gesperrt und dort verwahrt worden, jeweils 20 Menschen auf 25 Quadratmeter, Tag und Nacht beleuchtet und bei all ihren Regungen gefilmt.
Diese Käfighaltung manifestiert: Das Recht der inneren Sicherheit in Deutschland ist gekennzeichnet vom Verlust der Maßstäbe und von der Veralltäglichung der Maßlosigkeit. Bezeichnend dafür ist auch der ungeheuerliche Verdacht, dass staatliche Gewaltaufwiegler, Zivilpolizisten in schwarzer Maskerade, sich unter die Demonstranten von Heiligendamm gemischt, sie zu Straftaten angestiftet und zu diesem Zweck Steine auf die Polizei geworfen haben sollen. (mehr…)

Das Kleinvieh und sein Mist

Marcus Hammerschmitt
Wie das Menschenrecht auf Verschuldung erfunden wurde

mikrokredite.jpgGeht es nach dem Getöse, das seit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Muhammad Yunus erklingt, dann kann die Heiligsprechung des Ökonomen aus Bangladesch nicht mehr fern sein. Hat er doch, so die vorherrschende Meinung, mit seinen Kleinkrediten an arme Landbewohner (vor allem Frauen) ein Wundermittel zur Bekämpfung der Armut erfunden. Allerdings mischen sich in den Jubelchor mittlerweile auch ein paar Stimmen, die die Sache nüchterner sehen.
Als kürzlich der 12. Trendtag zum Thema “Karma-Kapitalismus - Werte statt Preise” in Hamburg stattfand (1) (vgl. Heuschrecken-Alarm im Ashram (2) und Muhammad Yunus als “Keynote Speaker” gewonnen werden konnte, da waren die Veranstalter sicher froh. Denn seit Yunus im Oktober letzten Jahres der Friedensnobelpreis verliehen worden ist (vgl. Mikrokredite als Ausweg aus der Armut (3)), umgeben den stets lächelnden Mann aus Bangladesch Bewunderung und Medienaufmerksamkeit wie eine Aura - und so etwas nützt jedem Kongress. (mehr…)

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