Vom Sozialstaat zum Kontrollsystem

Von Juli Zeh

Ärzte sollen Kranke melden, die ihr Leiden selbst verschuldet haben. Die Krankenkassen stünden demnach nicht uns bei, sondern wir schuldeten ihnen, gesund zu bleiben

julizeh_img_8958.jpgDie Diagnose vorab. Sie lautet: Erosion des demokratischen Denkvermögens im fortgeschrittenen Stadium. Symptome: Scheinlogik auf Seiten der politischen Akteure, Indifferenz bis zum politischen Autismus bei den Bürgern. Krankheitstypische Äußerungen von infizierten Personen: “Der Rechtsstaat muss verteidigt werden, aber in Zeiten wie diesen hat Sicherheit Vorrang” (ein eifriger Minister). Oder: “Dann sollen sie halt Festplatten scannen - das betrifft ja nicht Leute wie mich, die nichts zu verbergen haben” (ein unbescholtener Bürger). Verbreitungsgrad des Syndroms: epidemisch.
Die Optimisten unter uns glauben bislang, die Ausbreitung des beschriebenen Krankheitsbilds beschränke sich auf den sogenannten Anti-Terror-Kampf. Sie beobachten den Umbau eines auf Notlagen reagierenden Wohlfahrtsstaates in ein präventiv denkendes und handelndes Kontrollsystem und reden sich ein, es handele sich nicht um eine dauerhafte Entwicklung, nicht um ein grundsätzliches Umdenken in Sachen Bürger-Staat-Verhältnis, sondern um temporäre Härtefallregeln, mit deren Hilfe wir - leider, leider! - den derzeit so virulenten Bedrohungen unserer Gesellschaft begegnen müssen. Aber was, wenn das Virus ein wenig mutiert und plötzlich die Abteilung Terrorismus verlässt? Wenn es sich ein Wirtstier sucht, das es in alle Lebensbereiche trägt? (mehr…)

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